Ehrenmorde: Hintertür des BGH und Praxis der Instanzgerichte

Der Bundesgerichtshof bejaht die „Möglichkeit der Verurteilung nur wegen Totschlags bei starker Beherrschung des Täters von den Vorstellungen und Anschauungen seiner Heimat“ (Urteil v. 7.10.1994 – 2 StR 319/94).

Ehrenmorde führen nämlich

„dann nicht zu einer Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen, wenn dem Täter bei der Tat die Umstände nicht bewußt waren, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, oder wenn es ihm nicht möglich war, seine gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmen, gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 2, 4, 10, 12, 15, 24, 28).

Wurde der einem fremden Kulturkreis – der Blutrache duldet oder gar fordert – entstammende Täter noch derart stark von den Vorstellungen und Anschauungen seiner Heimat beherrscht, daß er sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und der gesamten Lebensumstände nicht lösen konnte, dann kann ausnahmsweise auch bei einer Tötung aus Blutrache eine Verurteilung lediglich wegen Totschlages in Betracht kommen (…)

So liegt der Fall hier: Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen ist nicht auszuschließen, daß der Angeklagte die besondere Verwerflichkeit seiner Tat, die ihre Bewertung als Mord rechtfertigt, nicht erkennen konnte. Er ist eine einfach strukturierte Persönlichkeit und nach wie vor den in Ostanatolien herrschenden traditionellen Moral- und Wertvorstellungen verhaftet, woran sich auch durch seinen Aufenthalt in Deutschland nichts geändert hat (UA 4). Er war vom ´Blutrachegedanken´ durchdrungen und von seiner Familie für die Durchführung der Tat ´ausgewählt´ worden; er fühlte sich verpflichtet, das Opfer zu töten, um die Familienehre wieder herzustellen, wodurch seine persönliche Entscheidungsfreiheit im Zeitpunkt der Tat reduziert war“ (Zitat BGH Ende).

Tatgerichte nutzen gerne die Hintertür des BGH

Aber die eigentliche Brisanz liegt darin, dass die Instanzgerichte die – eigentlich nur als Ausnahme gedachte – Hintertür des BGH großflächig nutzen:

„Empirische Erhebungen von Oberwittler/Kasselt* haben die verblüffende Tatsache offenbart, dass Tatgerichte (…) nicht einmal in einem Viertel der abgeurteilten Fälle einen Mord aus niedrigen Beweggründen bejaht haben.“
(Privatdozent Dr. Luís Greco, Ehrenmorde im dt. Strafrecht, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik/ZIS, 2014, S. 309 f., 312)

* Der Autor verweist auf: Oberwittler/Kasselt, Ehrenmorde in Deutschland, 2011, S. 161 f.

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